Wie die Baubranche zum Zugpferd der Transformation zur Klimaneutralität werden kann.
Sabine Nallinger
Vorständin der Stiftung KlimaWirtschaft
Frau Nallinger, der „European Green Deal“ gibt das Ziel vor, bis 2050 alle Nettoemissionen in der EU auf null zu reduzieren. Auf einer Skala von 1 bis 10: Wo steht die Baubranche heute?
Hier muss man zwischen Bestand und Neubau unterscheiden. Beim Neubau kann ich eine 8 vergeben – eine höhere Bewertung wäre durch eine stärkere Digitalisierung der Branche und mehr Mut für technisch anspruchsvollere Lösungen möglich. Der wichtigste Hebel zur Klimaneutralität liegt jedoch in der Sanierung des Gebäudebestandes. Hier stagniert die Sanierungsrate seit Jahren bei etwa einem Prozent, hier vergebe ich nur eine 3. Durch die aktuelle Energiekrise ist hier zuletzt Bewegung reingekommen, die sich zu einer positiven Dynamik entwickeln kann, wenn die Politik jetzt die richtigen Weichen stellt.
Die Bauindustrie gehört zu den ressourcenintensivsten Wirtschaftszweigen. Was muss jetzt passieren, damit sie 2050 auf der Skala die Position 10 einnimmt?
Weiterhin fehlen geeignete Anreize für Eigentümer, in die energetische Sanierung zu investieren. Wo das nicht ausreicht, müssen Förderungen oder eben ordnungsrechtliche Vorgaben aushelfen. Zudem brauchen wir einen ganzheitlichen Ansatz mit geschlossenen Wertstoffkreisläufen. Neben einem Fokus auf nachwachsende Rohstoffe muss auch das Recycling der bereits verbauten Stoffe viel stärker forciert werden: Die Bestandsgebäude sind die Rohstofflager der Zukunft. Wir bei der Stiftung KlimaWirtschaft vertreten den Standpunkt, dass die Wirtschaft von einem Teil des Problems zu einem Teil der Lösung werden muss. Die Rede ist sogar von einer industriellen Revolution.
Wen sehen Sie momentan als zentralen Initiator der Bewegung?
Die Zeit des Abwartens muss jetzt vorbei sein, es braucht ein Zusammenspiel aller Akteure. Wer heute baut, muss mehr nachhaltige Qualität beauftragen und darauf achten, dass diese auch geliefert wird. Um das Angebot zu verbessern, brauchen wir Innovationen, zum Beispiel im Bereich der industriellen Fertigung. Und die Politik muss nachhaltig tragfähige Rahmenbedingungen schaffen, damit sich das nicht nur wirtschaftlich rechnet, sondern auch international wettbewerbsfähig ist. Die 16 landeseigenen Bauordnungen sind ein Hemmnis, wenn es darum geht, Effizienzgewinne in die Fläche zu bringen.
Um zukünftig Ressourcen zu schonen und Treibhausgase zu reduzieren, muss die Baubranche neue Wege gehen. Welche gesetzlichen Bestimmungen könnten den Wandel bringen? Wo gibt es die größten Einsparungspotenziale?
Die größten konkreten Einsparpotenziale liegen in der energetischen Sanierung der Gebäudehüllen im Bestand, dem Einsatz einer optimierten und intelligenten Haustechnik in Verbindung mit klimaneutralen Energieträgern und einer gesetzlichen Verankerung der Circular Economy. Wenn Ressourcenschutz ernst gemeint sein soll, dann dürfen Neuprodukte aus Primärrohstoffen nicht mehr günstiger sein als deren recyceltes Pendant. Wenn Sie mich nach den entscheidenden Impulsen für den zukünftigen Wandel fragen, dann denke ich an mehr Standardisierung, modulare Bauweisen und eine stärkere Digitalisierung des Bauwesens. Dazu gehört aber auch eine transparente Förderlandschaft, die den erforderlichen Mut belohnt, sowie ein einfacherer, verbindlicher Rechtsrahmen mit klaren Bestimmungen und Vorgaben zur Nachhaltigkeit von Werkstoffen.
Die technologischen Strategien wurden bereits geschmiedet, die Klimaziele festgelegt. Warum wird jetzt nicht konsequent umgesetzt?
Die Gründe dafür sind vielfältig. Ausgerechnet in einem Jahr, in dem die Folgen des Klimawandels in ganz Europa schmerzlich spürbar wurden, bremsen Energiekrise, Störungen in den internationalen Lieferketten, der Fachkräftemangel, steigende Materialkosten, die Zinswende und eine allgemeine politische und wirtschaftliche Unsicherheit die zügige Umsetzung des Notwendigen aus. Deshalb müssen jetzt die bürokratischen Handbremsen gelöst werden. Eine Vielzahl betriebsbereiter Photovoltaikanlagen und Wärmepumpen steht auf den Dächern und in den Kellern, aber der Anschluss dauert oftmals viele Monate. Der Mieterstrom hat noch längst nicht die Fahrt aufgenommen, die möglich wäre. Auch die Bereitstellung von Fördermitteln muss verlässlicher und effizienter werden. Und schließlich müssen die unterschiedlichen Vorhaben besser miteinander abgestimmt werden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Bauindustrie?
Ich wünsche mir, dass die Bauindustrie zu einem Zugpferd der Transformation zur Klimaneutralität wird. Dafür müssen jetzt alle Akteure an einem Strang ziehen. Damit nachhaltige Produkte schnell marktfähig werden, braucht es eine bessere Vernetzung von Planern, Zulieferern und Ausführern. Vor allen Dingen aber wünsche ich mir mehr Mut bei den politischen Entscheidungsträgern, dass sie den progressiven Unternehmen, die sich schon auf den Weg gemacht haben, nicht nur mehr vertrauen und mehr zutrauen, sondern ihnen echten Rückenwind verschaffen.