Die E-Mobilität kommt und erfordert ein komplettes Umdenken in der Automobil- und Zulieferindustrie. Geschäftsmodelle, Produktionsprozesse, Standorte und Lieferketten – kaum ein Stein bleibt auf dem anderen. Ulrich Huth, President Automotive Sales bei Freudenberg Sealing Technologies, beschreibt, warum Schnelligkeit und Flexibilität angesagt sind und welche Rolle Standort und Arbeitskräfte spielen.
Der Verbrenner gilt in Zeiten des Klimawandels als Auslaufmodell – wo stehen wir aktuell?
Die Transformation vom Verbrenner zum Elektromotor ist in allen Kernmärkten der Automobilindustrie in vollem Gang, wenn auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. 2022 hatten rund zwölf Millionen neu zugelassene Fahrzeuge bereits einen elektrischen Antrieb, deutlich mehr als im Jahr davor. Lässt man kleinere Länder wie Norwegen außen vor – hier führen Elektroautos die Zulassungsstatistiken schon heute mit großem Abstand an –, geht China in absoluten Zahlen betrachtet bei der Elektromobilität weit voran. 2022 wurde jedes zweite Elektroauto in China verkauft. Noch vor 2035 werden weltweit 50 Prozent der verkauften neuen Autos elektrisch betrieben sein. Verbrenner gehen dagegen zurück, bleiben aber ein großer Markt.
Ulrich Huth
President Automotive Sales bei Freudenberg Sealing Technologies
Weitere Informationen und Kontakt unter: fst.com
China hat aktuell die Nase vorn. Weshalb investieren Unternehmen wieder verstärkt in Fabriken in Europa beziehungsweise in Nordamerika?
Die Kunden wünschen „Local for Local“. Wir stellen auch fest, dass aus Angst vor Versorgungsengpässen, Handelshemmnissen und politischen Verwerfungen Arbeitsschritte wieder zurück nach Europa und Nordamerika in die jeweiligen Märkte, zu den bestehenden Produktionsstätten, geholt werden. Das Zeitalter der Liberalisierung, der globalen Arbeitsteilung und offenen Märkte weicht – zumindest teilweise – einem zunehmenden Protektionismus.
Lassen Sie uns über die Brennstoffzelle sprechen. Welche Rolle wird diese künftig spielen?
Aus unserer Sicht wird sich die Brennstoffzelle im Pkw nicht durchsetzen. Auch Stadtbusse oder leichte Nutzfahrzeuge, zum Beispiel von Paketdiensten, werden nicht mit einer Brennstoffzelle, sondern batterieelektrisch fahren. Den Trend zur Brennstoffzelle sehen wir eher im Langstreckenverkehr, in schweren Nutzfahrzeugen im Waren- und Personentransport. Da ergibt diese Technologie wirtschaftlich Sinn. Batterien mit der nötigen Kapazität sind schwer und reduzieren die Transportlast. Ein alternativer Ansatz ist es, im Schwerlastverkehr Verbrennungsmotoren von Diesel- auf Wasserstoffantrieb umzustellen.
Stichwort Batterie: Welchen Stellenwert nimmt diese für Freudenberg Sealing Technologies ein?
Durch den Rückgang des Verbrenners und mit ihm verbundener Aggregate werden wir im Automobilbereich viele Geschäfte verlieren. Schon Ende 2026 werden weltweit circa 20 Millionen Verbrennungsmotoren in der Automobilindustrie weniger produziert wie im Vorkrisenjahr 2019. Das betrifft ungefähr 60 Prozent unseres früheren Umsatzes – was nicht bedeutet, dass dieser gänzlich wegfällt. Bisher lag unser Hauptfokus auf Motor und Getriebe. Diese Rolle übernimmt jetzt vor allem die Batterie. Hinzu kommt die E-Achse, die Elektromotor, Getriebe und Leistungselektronik in einem Aggregat zusammenfasst. Außerdem, wie ausgeführt, die Brennstoffzelle für Nutzfahrzeuge. Zwei Drittel in unserer Projektpipeline sind schon heute reine E-Mobility-Projekte. Wir haben heute durch die Batterie höhere Potenziale pro Fahrzeug als mit dem Verbrenner. Dafür müssen wir schnell und flexibel sein; Technologien und Lieferanten sind noch nicht fix gesetzt. Der Wettbewerbsdruck ist enorm und höher als im Verbrennergeschäft.
Was macht Freudenberg Sealing Technologies bei diesen Zukunftsthemen für Kunden attraktiv?
Viele unserer Neuentwicklungen für Batterien wie zum Beispiel das Druckausgleichselement DIAvent oder unsere Produkte aus dem Bereich Thermomanagement haben mit Dichtungstechnik auf den ersten Blick nichts mehr oder nur noch wenig zu tun. Was uns auszeichnet, ist unsere in der Dichtungstechnik erworbene Material-, Design- und Prozesskompetenz. Wir verfügen über profundes Anwendungswissen, mit dem wir unsere Kunden unterstützen. Dieses Know-how passt zu den Herausforderungen, die sich unseren Kunden in der Elektromobilität stellen. In engem Austausch mit unseren Kunden generieren wir mit diesen Kompetenzen innovative Lösungen, die insbesondere die Batterie und damit das Elektroauto sicherer machen.
Abgesehen von neuen Antriebstechnologien: Welche Trends beschäftigen Sie in Ihren Geschäften noch?
Elektromobilität ist der alles überragende Trend im Automobilgeschäft. Damit einher gehen die Konnektivität, Digitalisierung und Automatisierung. Die Stichworte lauten autonomes beziehungsweise teilautonomes Fahren sowie automatisierte Funktionen, die viele von uns als selbstverständlich ansehen. Sicherheitsausstattung und Komfortfunktionen – vom Massagesystem bis zum Entertainment – werden immer umfangreicher. Dies steigert den Bedarf an Sensorik und Elektronik. Hier hat unser Haus viele innovative Lösungen und wir profitieren von den Einführungen in kleineren Fahrzeugklassen. Bei unseren klassischen Dichtungsprodukten kommt uns zudem der Trend zur Getriebeautomatisierung über alle Fahrzeugklassen hinweg zugute.
Welche Rolle spielt der Fachkräftemangel in Ihren Bemühungen?
Wir stehen genauso wie die komplette Branche vor der großen Herausforderung, gut ausgebildetes und motiviertes Personal zu finden. Deshalb investieren wir verstärkt in Rekrutierung, Ausbildung und Entwicklung, um sicherzustellen, dass wir auch in Zukunft über qualifizierte Fachkräfte verfügen.
Wir haben zudem den Dialog mit den Mitarbeitenden verstärkt, um deren Anliegen und Bedürfnisse besser zu verstehen und darauf einzugehen. Wir möchten ein Umfeld schaffen, in dem sich unsere Mitarbeitenden geschätzt und unterstützt fühlen. Nur so können wir gemeinsam Spitzenleistung erbringen und langfristig erfolgreich sein.
Blicken wir abschließend gemeinsam ins Jahr 2050. Nennen Sie uns bitte kurz und knapp eine Entwicklung, die Sie in Ihrem Verantwortungsbereich sehen.
Die Vielfalt, wie wir von A nach B kommen, wird zunehmen. Die Bandbreite reicht vom autonomen Fahren im Schwarm bis hin zu Drohnen. Auf den Punkt gebracht: Das Thema Auto wird vom Thema Mobilität abgelöst.